Montag, 15. März 2010

Du mußt sofort hier her kommen, Harry! Er hörte sich sehr erschrocken an.
Was ist denn passiert?
Du mußt sofort herkommen. Du glaubst mir das nie, aber wir haben ein Wildschwein hier im Supermarkt!
Wenn du mich verarschen willst, dann ist das kein guter Anfang, Jürgen.
Nein, im Ernst. Ich hab keine Ahnung, wo das Vieh herkommt, aber es ist hier und es hat ein Kind ins Bein gebissen.
… Wenn das stimmt, solltet ihr da alle raus jetzt.
Ja, ich bin ja nicht blöd. Der Krankenwagen für den Kleinen ist auch schon unterwegs.

Der Parkplatz war fast leer, nur ein paar Schaulustige waren geblieben oder extra angereist. Jürgen beruhigte eine Frau, die augenscheinlich die Mutter des gebissenen Jungen war. Im Spiegel sah ich einen Krankenwagen auf das Gelände fahren. Das Gesicht der Mutter hellte sich deutlich auf. Jürgen stürmte auf mich zu.
Gott sei Dank, los komm mit. Wir gehen hinten rein, das Schwein sitzt grad in der Gemüseabteilung.

Und tatsächlich: ich konnte es durch die Glaseingangstür am Ende des Ganges sehen. Und dahinter einen jungen Verkäufer, der sich aufs Brotregal geflüchtet hatte.
Was macht denn der da drin?
Das ist August, er ist der einzige, der nicht am Schwein vorbeigeschleußt werden konnte. Er meinte, sich relativ sicher zu fühlen da oben.
Sieht aber ziemlich verschreckt aus, der Junge.
Ich winkte ihm. Er winkte zurück.

Paß auf: wir gehen vom Lager aus rein und du schießt das Vieh über den Haufen, dachte ich.
Wieso hast du denn nicht einen Förster oder Tierarzt angerufen? Die haben doch bestimmt ein Betäubungsgewehr oder sowas.
Naja.
Was, naja?
Naja.
Was, naja!?
Ich dachte, weißt du, so ein Wildschwein im Laden und dann noch ein verletztes Kind, am Ende hat das jetzt sogar Tollwut, weißt du.
Ja und?
Ich dachte, vielleicht wäre es dann ganz gut, wenn wir hier morgen ein kleines Grillfest machen, weißt du?
Ein Grillfest?
Na, damit uns die Kunden nicht wegbrechen. Also, was ist jetzt, erschießt du das Schwein? Vielleicht nicht unbedingt, in den Bauch.
Du willst das Vieh schlachten?
Naja, Spanferkel ißt doch jeder gern. Und wo es doch einmal da ist. Also was jetzt?
Du spinnst doch, Jürgen. Ich hole jetzt den Jungen raus und du rufst den Förster an.

Das Schwein lag ziemlich friedlich vor den Kartoffeln und fraß eine trotz des Neonlichts gülden schimmernde Pomelo. Einige Flaschen waren zu Bruch gegangen und es lag gehörig Obst und Gemüse auf dem Boden. Die Gurken waren im Angebot. Ich blieb erstmal an der Lagertür stehen. Der Junge wirkte jetzt ruhiger, wahrscheinlich, weil er mich draußen in der Uniform gesehen hatte und sich in Sicherheit wiegte. Jedenfalls hatte er sich eine Tüte Minisalami geöffnet und aß sie mit einem Körnerbrötchen. Als er mich jetzt sah, lächelte er. Ich lächelte auch ein wenig.

Das Schwein schien seinen Platz nicht verlassen zu wollen. Aber der Junge hatte sich ja versorgt. Jürgen gab mir zu verstehen, daß er den Förster nicht erreichen könne und bettelte mich an, die Grundlage für das schöne Grillfest zu legen.
Du kannst auch deine Frau mitbringen, flüsterte er mir zu. Wir bewegten uns wie Indianer. Jürgen deutete einen Tanz ums Lagerfeuer an und machte eine Geste, als ob er einen Spieß darüber drehte. Ich mußte lachen.

Jetzt stand das Tier auf und ging in Richtung Kühlregal, drehte sich jedoch kurz vorher nach links und steuerte die Vitrine mit den Navigationssystemen oder was weiß ich an. Das Schwein schien sich für Heimelektronik zu interessieren, denn es blieb vor der Vitrine stehen und blickte nach oben. Ich gab August zu verstehen, daß er sich jetzt langsam von seinem Hochstand entfernen könne, er schnappte sich die Salamitüte und begann vom Regal zu steigen. Das Schwein hatte es rascheln gehört und drehte sich um. August erstarrte und ließ die Tüte fallen. Das Schwein drehte sich gelangweilt zurück zu den Mobiltelephonen. Der Junge eilte jetzt in meine Richtung und verschwand hinter der Lagertür. Ich trat einen Schritt in den Markt.

Wie ruhig es war. Die alltägliche Hektik – völlig weg. Das Wildschwein stand gebannt vor der Vitrine. Ich kann doch kein Tier erschießen, das ein Handy kaufen will, dachte ich. Die gesamte Front des Plusmarktes war verglast wie an jedem dieser Märkte halt und obwohl es kurz vor Mittag war, drang kaum Licht bis hier hinter, weil bestimmt vierzig Leute ihre Nasen an die Scheiben pressten, um das Abenteuer ihres Lebens zu beobachten. Was, wenn das Schwein jetzt Gang 3 vorsprinten würde und, wie es Tiere so tun, die Fensterscheibe übersähe? Den Schrecken in vierzig Gesichtern möchte ich sehen. In dieser gefährlichen Situation würde man von mir erwarten, daß ich die Bestie erschieße. Natürlich. Aber was, wenn ich schieße und das Schwein verfehle und die Kugel im Unterleib eines Schaulustigen landet? Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir:

Schwerin. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich ein Wildschwein in ein Kaufhaus verirrt und ein Kind am Bein verletzt. Beim Versuch, das Schwein zu erschießen, traf ein Polizist einen Passanten tödlich.

Na prima. Das kann ich überhaupt nicht gebrauchen, noch so eine blöde Geschichte, dachte ich.

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