Montag, 23. August 2010


Es begann mit einer Swingerparty: Der Historiker Wolfgang Wippermann über das Ende der Ehrkultur im Kaiserreich

DIE ZEIT: Herr Wippermann, für Ihr Buch Skandal im Jagdschloss Grunewald haben Sie einen heißen Fund ausgewertet – eine polizeiliche Aktenmappe voll anonymer, teils pornografischer Briefe...

Wolfgang Wippermann: Diese Briefe sind tatsächlich einzigartig. Sie geben einen ungewöhnlichen Einblick in die Sitten- und Mentalitätsgeschichte der wilhelminischen Gesellschaft, in ihre Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit und in das, was als sexuell »normal« galt.

ZEIT: Diese Briefe schildern, was man heute eine Swingerparty nennt – und zwar in höchsten Hofkreisen.

Wippermann: Ja, es geht um eine Sexparty, die im Januar 1891 nach einer Schlittenfahrt gefeiert wurde. 15 hohe Angehörige der kaiserlichen Hofgesellschaft waren dabei, darunter eine Schwester Wilhelms II. und einer seiner Schwager. Die Frauen nahmen sich selbstbewusst, worauf sie Lust hatten. Männer vergnügten sich mit Männern.

ZEIT: Dabei gilt die Zeit des Kaiserreichs doch als eine besonders prüde Epoche.

Wippermann: Man war protestantisch und sittsam nach außen. Zugleich wurde, freilich nur den Männern, eine gewisse Freizügigkeit zugebilligt. Einer der Partygäste, der Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein, hieß in Hofkreisen nur »Herzog Rammler«. Er war regelmäßiger Puffgänger – wobei auch gemeinsame Bordellbesuche adliger Herren üblich waren. Eines Tages verlor er einen Orden bei einer Berliner Prostituierten. Die Frau brachte das Fundstück brav zur Polizei, die Sache wurde Stadtgespräch.

ZEIT: Was sich jedoch nicht zum Skandal ausweitete, so wie die Grunewald-Party. Warum?

Wippermann: Weil Ernst Günther den Rahmen dessen, was damals toleriert wurde, nicht überschritten hatte. Homosexualität hingegen stand unter Strafe und wurde als ansteckende Krankheit verteufelt. Auch Frauen, die ihre Sexualität selbstbewusst und aktiv auslebten, hielt man für krankhaft veranlagt. Das Skandalon verkörperte sich vor allem in einem Ehepaar, das im Grunewald dabei gewesen war, den Hohenaus. Gräfin Charlotte war bekannt für ihre Affären bei Hofe, auch mit Wilhelm II. soll sie im Bett gewesen sein; ihr Mann war schwul.

ZEIT: Wie kam es, dass die ganze Angelegenheit überhaupt öffentlich wurde?

Wippermann: Nach der Party wurden besagte erpresserische Briefe an die Gäste und andere Mitglieder des Hofes verschickt. Und da die Herrschaften sich die Post von ihren Bediensteten geöffnet vorlegen ließen, fielen dem Personal diese deftigen Texte entgegen samt den pornografischen Bildern, die ihnen beigelegt waren. So machte die Geschichte in Berlin schnell die Runde.

ZEIT: Weiß man, wer diese Briefe verfasst hat?

Wippermann: Nein. Verdächtigt wurde damals einer der Partygäste, der Zeremonienmeister Leberecht von Kotze. Er war eine auffällige Erscheinung: Vielen bei Hof galt er als »weibisch« und »fatzkenhaft«, weil er großen Wert auf modische Kleidung legte. Im Zuge recht windiger Ermittlungen brachte man ihn hinter Gitter. Wilhelm II. hatte seine Verhaftung angeordnet – wozu er nach geltendem Recht gar nicht befugt war! Doch es wurden weiterhin Briefe verschickt. Kotze kam frei. Er kämpfte nun um seine Ehre, indem er die Männer, die ihn als »weibisch« verleumdet hatten, zum Duell forderte. Der Sittenskandal entwickelte sich zu einem Skandal um Ehr- und Männlichkeitsrituale.

ZEIT: Gehörte es nicht, wie es Ihre Kollegin Ute Frevert eindrucksvoll dargestellt hat, zum Alltag, dass sich »Ehrenmänner« duellierten?

Wippermann: Eigentlich war es verboten, jeder wusste das. Dennoch schoss man weiter aufeinander. Ging die Sache böse aus, erwartete den »Mörder« eine kurze, milde Festungshaft; weigerte der Aufgeforderte sich, galt er als Feigling und wurde zum Beispiel aus dem Offizierskorps ausgeschlossen. So warf Kotze gleich drei Männern, die sich nicht bei ihm entschuldigt hatten, den Fehdehandschuh hin. Mit einem von ihnen kam es zum Duell. Kotze wurde verletzt. Aber er hatte seine Männlichkeit bewiesen. Kaum genesen, wurde er dann seinerseits zum Zweikampf gefordert. Kotze jedoch lehnte ab. Die Geschichte ging vor ein Ehrengericht; schließlich griff Wilhelm II. persönlich ein und ermöglichte es seinem Zeremonienmeister, sich erneut zu duellieren – was dieser auch tat, und zwar mit dem Mann, dessen Aufforderung er zuvor abgewiesen hatte. Das Duell endete tödlich. Kotze schoss seinen Gegner nieder, und das alles mit indirekter Billigung des Kaisers. Das war nun wirklich skandalös!

ZEIT: Wurde der Fall öffentlich diskutiert?

Wippermann: Es gab sogar im Reichstag eine Debatte zum Thema, wenn auch ohne verbindliches Ergebnis, und die Presse, vor allem die sozialdemokratische, machte sich lustig. So wurde vorgeschlagen, der Sieger eines Duells solle fortan den Skalp des Besiegten nehmen dürfen und bei zehn Skalpen zur Belohnung ein Rittergut erhalten. Lächerlichkeit tötet! Meine These ist: Durch den Kotze-Skandal wurden die herrschenden Vorstellungen von Männlichkeit und Ehre so stark tangiert, dass man sie letztlich aufgab.

ZEIT: Gab es denn danach keine Duelle mehr?

Wippermann: Die Zahl ging auffallend zurück, und die öffentliche Meinung stellte sich gegen den Kult um die Ehre. Der Skandal markiert den Anfang vom Ende eines hegemonialen Männlichkeitsbildes, des Bildes vom Ehrenmann.

ZEIT: Und was trat an dessen Stelle?

Wippermann: Es gab danach kein hegemoniales Männlichkeitsbild mehr. Großen Einfluss erlangte während des Ersten Weltkrieges allerdings eine Idee, die ich frei nach Klaus Theweleit die atavistische Männlichkeit nennen möchte – der Mann als archaischer Krieger.

ZEIT: Vom Ehrenmann zum Krieger – hatte diese ganze Affäre nicht auch positive Folgen?

Wippermann: Doch, in Ansätzen. Denn als das Image des Ehrenmanns angeknackst war, gab es Luft für neue gesellschaftliche Entwicklungen. Es entstand nun so etwas wie eine erste, zaghafte Schwulenbewegung. Auch die Frauenbewegung meldete sich verstärkt zu Wort.

ZEIT: Welche historischen Ereignisse haben die Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit seither geprägt und verändert?

Wippermann: Ein wichtiger Bruch war der Zweite Weltkrieg. Mit ihm erledigte sich nicht nur endgültig das überkommene Ehrkonzept, sondern auch die Kriegsverherrlichung à la Ernst Jünger. Nach 1945 wurden zwar die angestammten Rollenbilder zunächst restauriert, doch in den Sechzigern und Siebzigern entstanden ganz neue Ideen. Wenn heute in Meldungen über »Ehrenmorde« der alte Ehrbegriff wieder auftaucht, erscheint uns das zu Recht als ein fürchterlicher Anachronismus, den man weder tolerieren darf noch kann.

Die Zeit, 19/08/2010

2 Kommentare:

  1. Johann Sebastian Bach23. August 2010 um 20:07

    Ach, Will, was für ein schöner Abend das damals war.. Hab dir ja schon öfters von Kotze vorgeschwärmt.. Und wie herrlich Pisses Frau doch küssen konnte.. Naja, danke jedenfalls fürs Aufstöbern des Interviews aus diesem Independent-Magazin. Ist ja immer schade, wenn sowas dann nicht gelesen wird. Schöne Grüße (immer noch) aus Mallorca. Der wahre Rammelkaiser ;-)

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  2. http://www.soziologie.uni-freiburg.de/Personen/theweleit/

    -> Wie bitte kann man Dr. phil. sein und seine Arbeitsschwerpunkte auflisten, als sei es die Annonce der örtlichen Videothek!?!
    Mich deucht man ist ziemlich dämmlich, wenn man nicht einen Lehrauftrag als Dr. phil. hat, dafür wahrscheinlich ein fürstliches Salär bekommt und sich mit Pocahontas beschäftigen darf. Ich denke, lieber Will, du solltest, bei deinem Talent, auch eine Dissertation anstreben!

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