Mittwoch, 23. Juni 2010

In dem Moment, als sie sich verabredeten, setzte ein gewaltiger Schub Vorfreude in ihm ein. Er sah sie jetzt ganz deutlich vor sich, obwohl er doch eigentlich ganz allein nur auf der Landstraße stand und die Telephonzelle ansah. „Fernmündlich“, schoß es ihm durch den Kopf. Seine Großmutter war zwar schon vor über fünf Jahren gestorben, aber bei wichtigen Telephonaten, und das hier war ganz bestimmt das Wichtigste überhaupt, mußte er immer noch an sie denken. An sie, an „fernmündlich“ und an „Münzfernsprecher“. Immer nur ganz kurz blitzten diese Gedanken auf, dann dachte er wieder an SIE. SIE, die er also morgen Abend ins Lichtspielhaus ausführen würde. SIE – seine holde Maid.

Er würde mit dem Bus in die Stadt fahren, sich vorher adrett kleiden und sie dann den ganzen Abend, Film hin oder her, ansehen, sich an ihr laben, sie vielleicht gar berühren. Ihm wurde ganz blümerant zu Mute bei diesem Gedanken.

Er ging die Straße entlang zurück nach Hause. Er blickte sich um und einzig das Gelb der Telephonzelle durchbrach das Grau, das ewige Grau, das der Regen über Himmel und Felder gelegt hatte. Er bog auf einen Feldweg ab, hüpfte wie ein Schuljunge zwischen den Pfützen in Richtung des elterlichen Hofes. Das Gartentor quietschte wie immer beim Öffnen. Völlig durchnäßt, rauchte er unter dem Verschlag noch eine Zigarette bevor er ins Haus trat. Seine Eltern hatten das Grammophon angestellt, wie sie es an Feiertagen zu tun pflegten, das konnte er von draußen hören. Die krassen Beats hallten durch das Gehöft. Er sah durchs Fenster, seine Mutter dancete wie bekloppt. Während er noch einmal zum Brunnen ging, hatte seine Mutter an der Feuerstelle eine Pizza aufgetaut, die sie beim Trödler auf dem Markt erstanden hatte. Nach dem Essen ging er in seine Kammer und schlief vorfreudig ein.

Der Bus ging um halb vier. Bereits seit zwanzig Minuten stand er am Straßenrand und schaute minütlich auf seine Taschenuhr, die ihm sein Oheim vor Jahren geschenkt hatte, um sie gleich wieder in seine Westentasche zu stecken. Er besaß nur diese eine Weste, die er nur zu besonderen Anlässen trug, genau wie die grünen Schlüpfer, doch das konnte man freilich gar nicht sehen oder wissen.

Nachdem er einen Fahrschein gekauft hatte – das Ticket war noch nicht erfunden damals – setzte er sich neben die alte Frau Augenstern aus dem Nachbardorf. „Sie sehen aber chic aus, junger Mann!“ Sie musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle und er fühlte sich ob des Lobes ein wenig gebauchpinselt, weswegen er fast unmerklich zwar, aber eben doch errötete.

Der Bus setzte sich in Bewegung. Bis zur Stadt waren es gut 25 Meilen. Die Felder rauschten am Fenster vorbei, er schlummerte ein. Munter wurde er erst, als der Bus ruckartig zum Stillstand kam. Er blinzelte ein wenig und blickte verdutzt um sich: Apfelbäume, Fachwerkhäuschen, ein herumtollender Junge, alles wie gemalt, ganz herrlich pittoresk. „Du Lausbub!“ brüllte der Busfahrer den Dreikäsehoch an, weniger wütend als viel mehr froh darüber, daß nichts passiert war. Der Junge taumelte verschämt zurück in die Arme seiner besorgten Mutter, die sich entschuldigte und ihren Sohnemann glücklich in die Arme schloß. So wurde das Dörfchen wieder zu dem Kleinod, das es gewesen war, bevor der Bus es durchkreuzte.

Als der Bus sich wieder in Richtung Stadt, in Richtung Lichtspielhaus, in IHRE Richtung bewegte, schaute er noch einmal zurück und sah das gelbe Ortseingangsschild, das immer kleiner wurde bis es am Horizont verschwand. „Labsal – freie Kreisstadt“ stand darauf und er wunderte sich darüber…

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