Ich werde vom Telephon geweckt. Es ist Omi, relativ aufgelöst, aber das
muß ja nichts heißen. Opi ist heute Morgen zum Arzt gefahren und hat
alle Papiere zuhause liegen lassen. Führerschein, Ausweis, Krankenkarte,
Herzschrittmacherpaß, das volle Programm. Ich hole die Papiere bei ihr
ab und fahre nach Lommatzsch, ein kleiner Ort, ach was ein Kaff,
fünfzehn Kilometer von hier. Seit Jahren war ich nicht mehr dort, auf
dem Ortseingangsschild steht »Stadt Lommatzsch«. Witzig. Links und
rechts der Straße sind so neongrüne Plakate an die Laternen gehangen. Es
ist nicht zu erkennen, um was für eine Veranstaltung es geht. Bzw.
gegangen wäre, denn riesige »fällt aus«-Aufkleber überdecken die
Plakate. So ein Ort ist das, Lommatzsch. Intuitiv finde ich die
Arztpraxis, sehe Opis Auto auf dem Parkplatz – und direkt daneben einen
dunkelblauen Ford Fiesta. So einen, wie meine Großeltern direkt nach der
Wende gekauft haben.
Oben in der Praxis sind die Schwester und eine Omma im Gespräch, im
persönlichen Gespräch mit »Frohe Ostern« und allem drum und dran. Als
ich an der Reihe bin, blickt mich die Schwester verdutzt an,
wahrscheinlich bin ich der erste diese Woche unter sechzig. Ich halte
den Beutel nach oben, in den Omi Opis Papiere und ein Brillenetui getan
hat und sage, daß ich Herrn Richter suche und daß meine Omi grad
angerufen hat, wegen der Papiere. Die Schwester versteht, was hier los
ist, man sieht in ihrem Gesicht, wie es »bing« macht. »HERR RICHTER!«,
brüllt sie und Opi kommt um die Ecke geschlurft. Er freut sich, mich zu
sehen und ich freue mich auch, er sieht gut aus, gar nicht krank. Er
entschuldigt sich für die Mühe, die er mir gemacht hat und nimmt das
Etui und die Papiere aus dem Beutel. »Den schenk ich dir«, grinst er
mich an. Wir verabreden uns fürs Stahl-Riesa-Spiel am Sonnabend und
wünschen uns noch einen schönen Tag. Als ich an der Schwester vorbei zur
Tür gehe, sage ich: »Frohe Ostern.« Da freut sie sich.
Auf dem Hof gucke ich den Ford Fiesta nochmal genauer an. Es ist genau
die Farbe, nur fünfzehn Jahre blasser. Hatten meine Großeltern auch
einen Dreitürer? Das Nummernschild ist noch so eins ohne das blaue
EU-Kästchen links und endet auf 894. Das ist nicht der gleiche Fiesta,
sondern derselbe! Ich gehe näher ran, um die Sitzbezüge zu checken,
erschrecke aber, weil ich, die Hand an der Stirn, durch die Beifahrertür
direkt eine Omi angucke, die wahrscheinlich im Auto auf ihren Mann oben
beim Arzt wartet. Sie bemerkt mich zum Glück nicht, ich drehe wieder um
und hole aus dem Auto mein Telephon, um ein Erinnerungsphoto vom alten
Fiesta und neuen Focus direkt daneben zu machen. Fehlt eigentlich nur
noch der weinrote Escort, den sie dazwischen hatten. Aber den fand ich
eh immer scheiße. Omi und Opi werden sich über das Photo freuen und Omi
kann endlich mal wieder erzählen, daß nicht sie das erste Auto nach der
Wende aussuchen durfte, sondern Opi stattdessen auf die Meinung seines
vierjährigen Enkels gehört hat. Da der nach wie vor sehr schön
dunkelblaue Fiesta aber anscheinend noch fährt, lag ich damals wohl
nicht so falsch.
Beflügelt vom unerwarteten Wiedersehen mit dem alten Ford, beschließe
ich, eine Runde durchs Dorf (Lommatzsch ist einfach keine Stadt) zu
laufen und irgendwo was zu essen. Auf dem Markt ist heute zufällig
Markt, überall stehen alte Leute rum oder parken gerade ihr Auto. Ein
schöner Audi 100 steht neben dem Bäcker, der, wie ich auf dem
Schaufenster lese, seit letztem Wochenende auch sonnabends und sonntags
14-17Uhr geöffnet hat. Der Audi hat auch kein EU-Nummernschild, genauso
wenig wie der Golf und der Audi 80 vor der Apotheke. Als ich diese
Anhäufung von ersten West-Autos photographieren will, fährt ungelogen
ein Rentnerpaar in einem weißen Trabi-Kombi ins Bild, selbstredend mit
altem Kennzeichen.
Zwischen dem Broilerwagen und dem mit einer langen grauhaarigen Schlange
versehenen Fleischerwagen hindurch gehe ich in die von Wagen und
Ständen gebildete Wochenmarktgasse. Hinter dem Käsewagen sehe ich, von
einer großen Tanne verdeckt, einen kleinen Balkon am Rathaus. Dort stand
vor vielen Jahren mal Terence Hill und winkte dem rappelvollen
Marktplatz seiner Heimatstadt zu. Ich hatte das alles irgendwie größer
in Erinnerung. Diesen seltsamen Platz, der so schief ist, daß das
Rathaus mitten darauf vorn zwei Stockwerke mehr hat als hinten. Heute
hat der Markt nur sehr wenige Besucher an den wenigen Stände n zu
bieten. Wurst, Brot, Fisch, Blumen, Honig, Haushaltswaren und in einem
Anflug von Luxus zwei Gemüsestände. Die Ladengeschäfte im Hintergrund
stehen alle leer und zum Verkauf.
Ich entdecke einen Durchgang in einer Ecke des Platzes. Als ich ihn
passiere, spricht mich eine der pinkorangelachsfarben bejackten Frauen
an. Es ist Tante Inge. Sie und der Bruder meines Opas sind die einzigen
Menschen, die ich kenne, die in Lommatzsch wohnen. Schon immer. War ja
eigentlich klar, daß ich sie hier treffe. Herzliche Begrüßung, kurze
Erklärung meinerseits, warum ich hier bin. Bevor ich was zum tristen
Bild des leeren Wochenmarktes sagen kann, erklärt mir die andere Frau,
mit der sich Tante Inge unterhält, daß donnerstags immer so viel los
ist, weil dann ja Markt ist. Ich verabschiede mich. »Schöne Grüße an…«
usw. usf.
Zweimal um die Ecke gebogen, gehe ich an einem Schulgelände vorbei, wo
Licht brennt, aber niemand zu sehen oder zu hören ist. Das ist
wahrscheinlich normal und an jeder Schule so, wenn grad keine Pause ist,
hier aber frage ich mich, ob beim Schließen der Schule irgendwann in
den Neunzigern nicht einfach jemand vergessen hat, das Licht
auszumachen. Gegenüber erfreut
sich ein Schleckermarkt seines Lebens.
Zu sagen, am Käsewagen auf dem lommatzscher Wochenmarkt sei heute der
»Morbier« im Angebot, würde sehr gut als Pointe funktionieren. Leider
würde es keiner glauben. Leider entspricht es der Wahrheit.